documenta fifteen. Jetzt meldet sich mal die Kunsthistorikerin.

So viel ist darüber geschrieben und geredet worden. Da wollte ich mir ein eigenes Bild machen. Letzte Woche war ich für vier Tage in Kassel. Zwei Tage habe ich gearbeitet, zwei Tage Kunst  satt gehabt (ich nenne es übrigens „Work&Art“). 

Schon viele Male bin ich auf der Documenta gewesen. Sie ist alle fünf Jahre ein Riesen-Kunst-Event für 100 Tage – weltweit eines der größten Kunst-Events. 

Wer es von den KünstlerInnen bis hierhin geschafft hat, der hat den Kunst-Olymp erreicht. Normalerweise! 

Diese documenta aber ist anders.

Auf der documenta fifteen gibt es Künstler-Kollektive, keine Einzelsta(r) tisten, selbst das indonesische KurorInnen-Team ruangrupa ist ein Kollektiv. Alles ist Kollektiv. Und so auch der inhaltliche Ansatz: Lumbung. Der Lumbung ist eine Reisscheune, die in den meisten indonesischen Dörfern steht. Sehr zentral. Jeder im Dorf gibt rein, was er hat, jeder kann sich holen, was er braucht. 

So könnte auch die Welt funktionieren. Die Macher dieser documenta stellen sich gegen Postkolonialisierung, Ausbeutung der Umwelt, kämpfen für Gleichstellung der Geschlechter und der Minderheiten. 

Im Fokus des kuratorischen Ansatzes stehen die Grundsätze von Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung.

„Wir wollen eine global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform schaffen, die über die 100 Tage der documenta fifteen hinaus wirksam bleibt. Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen.“ (mehr dazu: https://universes.art/de/documenta/2022/short-concept

The Nest Collective aus Nairobi mit Return to Sender : Kleiderbündel und
Schrotthaufen liegen auf der gepflegten Wiese der Kasseler Karlsaue

Eine Reisscheune als Statussymbol

Vertreten sind vor allem Künstlergruppen (also Kollektive) aus dem asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Raum, die in einer benachteiligten Welt leben und unter der Globalisierung und dem westlich-industrialisiertem System leiden. 

Bei mir braucht es etwas Zeit, bis ich diesen Ansatz  in seiner Gesamtheit begriffen habe. Der ist zuerst etwas gewöhnungsbedürftig. Vom Künstlerischen bin ich anderes gewohnt, persönlich ist es auch nicht ganz der Kunststil, den ich mag. Aber das ist ja sehr subjektiv.

Irgendwann macht es bei mir Klick und ich lege meine „übliche Kunstverständnis-Brille“ ab um endlich besser zu verstehen. Denn den KünstlerInnen in ihren Kollektivs ist anderes wichtig.  Sie stehen mitten in der Thematik, die sie anprangern und ändern wollen. Ihnen steht in ihrem Lebensraum quasi das Wasser bis zum Hals. Sie erleben so krass jeden Tag und direkt die Konsequenzen der Globalisierung in ihrem Land, haben selber direkt mit Armut und Ausbeutung zu kämpfen. Und das äußern sie direkt! in ihrer Kunst.

Und ja, wir „im Westen“ kennen diese KünstlerInnen nicht. Aber es sind in ihren Ländern angesehene KünstlerInnen, die ebenso das Recht haben in dieser Welt künstlerisch ihre Stimme zu erheben

Wajukuu Art Project aus dem Mukuru-Slum in Nairobi I Documentahalle

Der genaue Blick ist wichtig

Und so ist der zweite, unvoreingenommene Blick entscheidend. Denn in diesem Jahr sollte man/ frau wirklich genau hinschauen. Und genau hinhören, was die 1500 Künstler*innen in ihren Kollektiven an den 32 Ausstellungsorten präsentieren, was sie der Welt zu sagen haben. 

Wertfrei, offen, unvoreingenommen und objektiv. 

Mehr Gemeinschaft und Gemeinsinn, Einsatz für den Nächsten, keine Zerstörung der Natur und der Lebensbedingungen von Einheimischen. Schluss mit Ego, Macht, Gier und übertriebener  Selbstverwirklichung. Mehr Kollektiv und weniger Ego. . Nur gemeinschaftlich wird diese enorme Herausforderung in der Welt möglich sein.  Und da haben sie Recht. 

Ein zu idealistischer Weg? Nein. Kunst darf das. Muss das. Viel Zeit bleibt der Welt ja auch nicht mehr! 

Mein Fazit

Also, ein hehrer Ansatz der documenta fifteen. Toll, wenn die Kunst hier einen positiven Diskurs anwerfen kann.

Der wird aber erheblich getrübt durch die Antisemitismus Debatte, die durch das anstößige Banner des Kollektivs Taring Padi aus Indonesien mitten in der Stadt ausgelöst wurde. Beziehungsweise, die Debatte, die nicht stattfindet.

Da ist ein großer Minuspunkt auf der documenta: die Verantwortlichen scheuen den Diskurs über diese Vorwürfe. Sie bleiben im Raum stehen, werden nicht richtig aufgearbeitet. Und gerade dort, auf der documenta wäre der geeignete Ort um Offenheit gegenüber diesem Thema zu demonstrieren. Und alle Stimmen zu hören. Denn was Taring Padi an einem anderen Ausstellungsort zeigt (Hallenbad Ost) zeigt nichts von Antisemitismus.

Also, da liegt leider einiges im Argen. Was zu einigen Eklats führte, u.a. hat die Künstlerin Hito Steyerl ihre sehenswerte Arbeit am 9. Juli im Ottoneum abgebaut. Sehr schade, dass diese Chance, nämlich in einem kreativen Rahmen konstruktiv Meinungen auszutauschen und Verletzungen zu beheben, vertan wird.

Der Kohlequader vor der Documentahalle mahnt, nur noch regenerative Energien zu nutzen.

Mein Fazit: der Lumbung-Ansatz dieser Documenta ist wirklich gut, die Umsetzung künstlerisch befriedigend, die Diskussionsbereitschaft rund um heikle Themen mangelhaft. Und damit fällt das ideale Kartenhaus fast auch schon wieder in sich zusammen. Echt schade! Der Mensch scheint es echt nicht auf die Reihe zu kriegen, die Welt wieder in den Griff zu bekommen.

Dennoch: Hingehen und sich selber ein Bild machen. Und irgendwie doch verändert zurückkommen.

Wenn Du mehr wissen willst oder Dich mit mir austauschen willst – über die documenta, über deine Herausforderung…. whatever – dann melde Dich auf jeden Fall.

Ich bin für Dich da.

Bleib weiter kreativ. Deine Inge

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